250 Jahre Musikverlag und Musikhaus André

Netzwerke

Prof. Dr. Axel Beer

Schon im 19. Jahrhundert reichten die Beziehungen des Hauses André bis nach New York – ein Satz wie dieser ist durchaus richtig, aber auch leicht gesagt. Schön wäre es, wenn wir diesbezügliche Zusammenhänge und Hintergründe auf Knopfdruck herbeizaubern könnten. Voraussetzung wäre allerdings, dass eine kultur- und musikhistorisch bestens geschulte Arbeitsgruppe, für die zudem das Umgehen mit alten Handschriften selbstverständliche Alltagsbeschäftigung ist, sich für ein paar Jahre im Andréschen Archiv eingemauert hätte: Neben anderen Quellen (erwähnt sei die komplett überlieferte Buchführung) hätte man mehrere Zehntausend Briefe nicht nur lesen, sondern auch analysieren und verschlagworten müssen, um letztlich belastbare Aussagen darüber treffen zu können, wer mit wem wann und zu welchem Zweck kommuniziert hat – und was letztlich dabei herausgekommen ist. Das Ergebnis wäre sicher einfach zu formulieren und beeindruckend gewesen: Ein riesengroßes Netzwerk über den gesamten Erdball hinweg – aber etwas einfach mal daherreden geht nicht; jedenfalls nicht für Leute, die ihr Fach und die damit verbundene gesellschaftliche Verantwortung ernstnehmen.

Wenden wir uns, statt leeres Stroh zu dreschen, einfach mal einem Beispiel zu, nämlich den seit Ende 1804 für einen längeren Zeitraum hinweg fast vollständig überlieferten Briefkopierbüchern, in denen man die ausgehende Post als Abschrift bzw. Konzept archivierte, und betrachten wir nur einmal den ersten Band, den 12. Dezember 1804 bis zum 14. Oktober 1805 umfassend: Er enthält auf 690 Seiten ca. 1500 geschäftliche, vielfach auch sehr persönlich gehaltene Schreiben an 459 Adressaten: Einzelkunden, private wie professionelle Musikalienhändler (unter Ersteren insbesondere Organisten und Musiklehrer), Bankhäuser, Papierfabrikanten, selbstverständlich auch Komponisten und etliche andere.

Wir lernen, dass der größte Teil des Handelsverkehrs sich im deutschsprachigen Raum abspielte – vor allem im Westen, im Norden, in der Mitte und im Osten, wobei (neben dem näheren regionalen Umfeld mit Frankfurt, Mainz, Wiesbaden, Darmstadt und Hanau) die Zentren Köln, Hamburg, Berlin und Leipzig hervorzuheben sind; natürlich kommt Wien ebenso hinzu wie etwa Breslau. Man darf überdies nicht vergessen, dass Danzig und Königsberg sowie die wohlhabenden Städte im Baltikum (ungeachtet ihrer damaligen resp. heutigen politischen Zugehörigkeit) überaus wichtige Absatzmärkte – und dies nicht nur für André – darstellten. Was man darüber hinaus verdrängt haben mag: In St. Petersburg und in Moskau herrschte eine solche Musikbegeisterung (mit entsprechendem Musikkonsum), dass kein deutscher Musikverlag es unterlassen konnte, dort intensive Beziehungen zu pflegen. Bezeichnenderweise waren es ausnahmslos auch deutsche Händler, die in den russischen Metropolen immer neues Musiziergut unter die Leute brachten: Carl Ludwig Lehnhold in Moskau und Carl Lissner in St. Petersburg seien exemplarisch genannt – nicht nur für André stellte eine vertrauensvolle und dauerhafte Zusammenarbeit mit ihnen und mit vielen ihrer Kollegen ein geradezu existenziell wichtiges wirtschaftliches Standbein dar. Oben genannte Arbeitsgruppe würde vermutlich herausfinden, dass hier am meisten „zu holen“ war. Die in Paris und London errichteten Firmenzweige lassen ahnen, wie wichtig die Beziehungen auch dorthin waren – allein wegen der Beliebtheit Pariser Komponisten, deren Werke André (wie andere es auch taten) selbstverständlich nachdruckte, und umgekehrt wegen der Absatzmöglichkeiten an der Themse: allein im Sommer 1805 gingen Musikalien im Wert von fast 1000 Gulden (dafür musste ein Durchschnittsmusiker um die zwei Jahre arbeiten) an den aus der Haydn-Vita bekannten Konzertveranstalter Johann Peter Salomon. Natürlich bestanden zudem Beziehungen nach Amsterdam, von wo aus übrigens weitere Kanäle nach London und Paris gepflegt wurden, und in die Schweiz sowie nach Italien, wo das Haus über gute Bekannte insbesondere in Venedig und Triest verfügte; auch in Kopenhagen konnte man Noten aus Offenbach erwerben, ebenso in Stockholm, Prag und Warschau sowie sogar in Lissabon, wo der Händler Johann Baptist Waltmann davon lebte, Musikalien (nicht nur) aus dem Hause André zu verkaufen. Und auch die ersten Ideen in Richtung Übersee formierten sich: Johann Anton André hatte „von allen Seiten her“ gehört, dass in den „Seestädten starker Musikhandel nach […] Indien getrieben wird“ (Brief an Ernst Friedrich Rosenberger in Amsterdam, 23. Januar 1805) – inwieweit er sich hier einklinken konnte, wäre noch zu ermitteln; dagegen (und wir werfen einen Blick in das 1206 Seiten umfassende Kopierbuch 1812–1816) sei nur kurz verraten, dass André spätestens 1811 Beziehungen nach New York und Baltimore anknüpfen konnte.