250 Jahre Musikverlag und Musikhaus André

Herstellung und Ausstattung der Notendrucke

Prof. Dr. Axel Beer

Wenn es alles wirklich so simpel gewesen wäre, wie man immer wieder liest, bräuchte man kaum ein Wort darüber zu verlieren. Aber das Steindruckverfahren, das Johann Anton André seit 1800 als erster Musikverleger überhaupt planmäßig zu nutzen begann, uneingeschränkt als den großen Durchbruch zu feiern, ist Resultat eines Wunschdenkens, das sich immer wieder dann einstellt, wenn man, um sich nicht verunsichern zu lassen, einen großen Bogen um die historischen Quellen macht. Und die sagen nun einmal, dass die neue Technologie ihre Tücken hatte:

Um das Patent nutzen zu dürfen und dafür, dass dessen Erfinder, der Münchener Alois Senefelder, zwei seiner Brüder und ein weiterer Mitarbeiter seit 1799 für etwas mehr als zwei Jahre in Offenbach ihre Zelte aufschlugen (und dort auf Kosten des Verlegers reichlich komfortabel lebten), investierte Johann Anton André nicht weniger als 10.000 Gulden, die im Laufe der Zeit erbrachten Sachkosten nicht eingerechnet: Die für jenen Zweck verwendbaren Steine waren nur im mittelfränkischen Solnhofen zu haben, wurden nicht ohne ständig eintretende Komplikationen auf dem Land- und Wasserweg (über 200 km Luftlinie!) nach Offenbach transportiert und dort (vor wie nach der Nutzung) gelagert – pro Stück mindestens fünf Kilo. Die Notenstecher, die zuvor einen inzwischen längst gängigen Beruf ausgeübt und mit ihren sehr entwickelten Werkzeugen über Jahrzehnte hinweg zuverlässig gearbeitet hatten, ließen sich nicht einfach mal nebenbei umschulen; ebenso war der gesamte Maschinenpark nicht von heute auf morgen auszuwechseln, wobei – wer denkt heute schon an sowas – man auch nicht dasselbe Papier verwenden konnte. Entsprechend kann von „Einführung“ (das Wort wird in diesem Zusammenhang gern verwendet) der Lithographie gleichsam von heute auf morgen nicht die Rede sein: Erst mehr als zehn Jahre nach den ersten Versuchen, nämlich seit 1812, erfolgte die gesamte Notenproduktion des Hauses André mittels Lithographie. Wo sind also die Vorteile? Von leichterer Handhabbarkeit – also ab dem Zeitpunkt, da die schwere Steinplatte endlich unter den Händen des Lithographen war – kann man kaum sprechen: Während das Stechen von Noten und sprachlichen Texten bis dahin in der Regel von ein und derselben Person erledigt wurde, brauchte es nun zwei Spezialisten; und da „Steinschriftschreiber“ offenbar eine rare Spezies darstellten, sah sich André gar gezwungen, die Produktion von Vokalmusik zu reduzieren. Was die höheren Auflagen betrifft, die gerne als entscheidender Vorteil der Notenlithographie angeführt werden: Die Buchführung belegt, dass die diesbezüglichen Zahlen sich nicht änderten – André war Geschäftsmann genug, um zu wissen, dass es Unsinn ist, über die Nachfrage hinaus zu produzieren. Und ob nicht doch unter dem Strich alles viel billiger war? Nun – wer bis hierher gelesen hat, wird das nicht mehr glauben; übrigens: Die für den (herkömmlichen) Notenstich erforderlichen Metallplatten konnten (vor Ort natürlich) zu fast 100% recycelt werden. Wenn es also keine Vorteile gab, warum dann dieser riesige Aufwand, der unnötig viel Geld verschlang und Einschränkungen mit sich brachte? Genau wissen wir es nicht. Mag sein, dass André darauf rechnete, schlicht und einfach mit seinen sich anders anfühlenden und auch anders ausschauenden Ausgaben Aufsehen zu erregen und angesichts der allenthalben wachsenden Konkurrenz ein Alleinstellungsmerkmal zu erlangen. Es ist auch nicht auszuschließen und durchaus vorstellbar, dass er rechtliche Gründe im Hinterkopf hatte: Die obrigkeitlichen Privilegien, die bisher innerhalb seines Gewerbezweigs (zeitlich begrenzt) erteilt worden waren, zielten nicht auf das Verlegen musikalischer Werke an sich, sondern auf die Herstellungsweise – mittlerweile häuften sich wegen vermeintlichen oder tatsächlichen Nachdrucks gegenseitige öffentliche Anfeindungen einzelner Firmen, und André (der zu den Betroffenen zählte) hatte immerhin vor, eine beträchtliche Anzahl Mozartscher Kompositionen zu publizieren, von denen er nicht in jedem Fall wissen konnte, ob etwas davon – möglicherweise unter einer anderen Bezeichnung – schon früher in Wien erschienen war; im Falle etwaiger Klagen wegen Eigentumsverletzung wäre er mit Hinweis auf die bisherige Rechtsprechung nicht angreifbar gewesen. Allerdings blieben diesbezügliche Auseinandersetzungen aus; und wie es so ist, wechselten die Moden: Kaum hatte man sich – auch andernorts – an die (freilich aus ästhetischen Gründen nie unumstrittene) Lithographie gewöhnt, wuchs offensichtlich das Bedürfnis, wieder das gute alte griffige Büttenpapier, das für den Steindruck untauglich war, in den Händen zu halten. Man hatte bei André wohl nicht alles weggeworfen, was man zum Notenstechen brauchte, und manch einer konnte auch noch mit dem Stichwerkzeug umgehen – jedenfalls tauchen seit den 1850er Jahren wieder reichlich Ausgaben in der altbewährten Technik auf, bevor dann, wiederum einige Jahrzehnte später, die Verwendung modernerer Druckverfahren zur wirtschaftlichen Notwendigkeit wurde und man (ebenso wie die Konkurrenz) die Herstellung in die Hände hierauf spezialisierter Firmen gab. Hier schließt sich der Kreis, denn bis heute lassen sich alle diese Verfahren auf die Grundidee Alois Senefelders zurückführen.

Was man im Nachhinein oft vergisst oder außer Acht lässt: Ein Notendruck war nicht nur dazu bestimmt, Musik in schriftlicher Form ganz pragmatisch zu fixieren und zu verbreiten – er war auch Teil eines häuslichen Interieurs, das in seiner Gesamtheit das Lebensgefühl derer, die es sich leisten konnten, repräsentiert. Das Mobiliar und weitere Einrichtungsgegenstände, Tapisserien, Gemälde und Graphiken zeugten von Modebewusstsein und individuellem Geschmack; und zählte Musik zu den Lieblingsbeschäftigungen, so stand das Klavier (bedarfsweise unter Mitwirkung anderer Instrumente und Singstimmen) bereit, damit der Raum auch akustisch mit dem erfüllt werden konnte, das gerade „angesagt“ und auf dem Markt war. Wer wird damals nicht die attraktiven Titelseiten der aktuellsten Musikdrucke bewundert haben, all den Rokokozierrat, der die mit kalligraphischer Sorgfalt ausgeführten Schriftzüge umgab, das vielfältige Arsenal von floralen und architektonischen Elementen, Putten, musikalischen Symbolen und vieles mehr, das alles mit jenem Interieur und den – sicherlich gleichfalls modisch gekleideten – Personen kommunizierte. Natürlich konnte das Haus André diesbezüglich nicht ausscheren und präsentierte folglich viele seiner Ausgaben zunächst in der geschilderten Weise – so, wie man das in Paris, London und Amsterdam machte und wie es der nachbarliche Konkurrent Haueisen in Frankfurt gleichfalls tat. Bald aber kam der eine oder andere recht eigenwillige Entwurf hinzu, wobei es heimische Künstler waren, die man gewinnen konnte: Isaac Schnapper etwa, der 1776 einen Titel nicht nur mit dem üblichen Rokokorahmen und (alles andere als steif) musizierenden Putten gestaltete, sondern einen Hintergrund schuf, der die Zeitgenossen mehr als verwirrt haben muss und der uns eher an die Kunst eines Victor Vasarely erinnert als an die Bildsprache des 18. Jahrhunderts. Vor allem aber scheint es Georg Heinrich Hergenröder gewesen zu sein, der just seit 1774 in Offenbach lebte, eine Kunstschule leitete und (wenigstens inspirierend, wenn nicht selbst aktiv) auf die Gestaltung der seit den 1790er Jahren für das Haus André so charakteristischen und unverwechselbaren Titel einwirkte: Es sind jene niedlichen kleinen Radierungen, die eben nicht die gesamte Fläche der Titelseite einnehmen, sondern zum Nähertreten und genauen Hinsehen einladen – und vor allem den Blick nach draußen leiten in jene Landschaften mit einzelnen, zumeist schon in die Jahre gekommenen Bauwerken, wie sie in der Gegend allgegenwärtig und bekannt waren. Wichtig ist hierbei auch die ganz bewusste Betonung des Bildcharakters durch den herstellungsbedingten und unübersehbaren Plattenrand; und ebenso wichtig ist es, nicht den Fehler zu machen, in den Darstellungen musikalische Programme entdecken zu wollen – man hört Musik und gibt sich der individuellen Fantasie hin. Dass man den zweifellos liebgewordenen Zierrat ins neue Jahrhundert mitnahm, ist nachzuvollziehen, doch zeigen manche missglückte Versuche, dass gerade hierbei die Lithographie ein Opfer forderte; Sparzwang in politisch und gesellschaftlich schwierigen Zeiten mag weiterhin zum gänzlichen Verzicht auf all das beigetragen haben, das jenseits der unumgänglichen sachlichen Mitteilungen auf den Titeln angesiedelt war. Am Ende des 19. Jahrhunderts drängte sich im Zusammenhang mit dem Boom, den die graphische Gebrauchskunst erlebte, die Tendenz einer erneuten und stärkeren Betonung der Titelseiten auf, die diesmal zwar wiederum den Zeitgeist erleben lassen, jedoch viel konkreter, als das rund ein Jahrhundert zuvor der Fall war: Das, wovon Musik und Text sprechen, ist nun auch zu sehen; und das, was man sieht, ist von einer bemerkenswerten künstlerischen Ambitioniertheit.