250 Jahre Musikverlag und Musikhaus André

Von Aufbruch, Verlust und Ankommen

Die Flucht der Familie André
Erzählt aus der Sicht von Gilles André

Mein Name ist Gilles, Gilles André. Mit mir beginnt die Geschichte der Andrés in Offenbach, doch davon wird meine Erstgeborene, Caterine, später erzählen – ich will da nicht vorgreifen. Vielmehr werfe ich heute einen Blick zurück darauf, wie schwer der Weg war, um meinen Kindern ein Leben in Sicherheit und Würde zu ermöglichen.

Meine Kindheit verbrachte ich in der wunderschönen Provence. Hier lebte ich mit meiner Familie: Meiner Mutter, Françoise, meinem Stiefvater Jacques Heraud – oder Beaupére, wie ich ihn nannte – und mit meinen Brüdern. Ich war der Älteste von uns vieren, geboren 1673 in St. Gilles en Languedoc. Jean kam drei Jahre nach mir auf die Welt; kurz darauf starb unser Vater. Mit nicht einmal 30 Jahren war meine Mutter Witwe. Ich selbst habe kaum mehr Erinnerungen an meinen Vater, die Erzählungen meiner Mutter zeichnen ihn aber als liebenswürdigen, lebensfrohen Menschen, unter dessen frühem Tod sie sehr gelitten hat.

Dass sie noch einmal das Glück haben sollte, mit Jacques einen Menschen zu finden, mit dem sie so glücklich sein durfte wie mit meinem Vater, erfüllte sie mit großer Dankbarkeit! Zwei Söhne brachte meine Mutter nach der Hochzeit mit Jacques noch zur Welt – die beiden waren sehr glücklich über ihre Familie, die man heute wohl als Patchworkfamilie bezeichnen würde. Dass Henri und Valentin meine Halbbrüder waren, spielte keine Rolle – sie waren ebenso meine Brüder wie Jean. Henri war noch zu klein dafür, aber solange es uns großen Kindern möglich war, erkundeten wir die Landschaft, pflückten Lavendelsträuße für Maman und schliefen abends zum Konzert der Zikaden unseren Betten ein. Ja, es war herrlich für uns Kinder und wenn es nach uns gegangen wäre, hätte unser Leben ewig in dieser Unbeschwertheit weitergehen können.

Was, um alles in der Welt, musste passieren, dass wir unser scheinbar so friedvolles Leben in Südfrankreich aufgegeben haben, um in der Fremde noch einmal ganz von vorne zu beginnen? Nun, was ich noch nicht erwähnt habe, ist der Grund, warum wir Kinder so viel Zeit hatten für unsere Entdeckungstouren: Es war uns verboten, zu lernen. Lesen, Schreiben und die Grundrechenarten – das waren die wenigen Kompetenzen, die wir uns aneignen durften als Kinder von Protestanten im damaligen Frankreich.

Damals wie heute hat man manchmal keine Wahl, wenn man sein Leben in Würde verbringen möchte und sich eine bessere Zukunft für seine Kinder erhofft – so wie meine Eltern es taten. Und wir hatten leider keine Wahl. Denn wir waren Hugenotten, Anhänger des protestantischen Glaubens im katholischen Frankreich; und damit erklärte Staatsfeinde des französischen Königs, Ludwig XIV. Und deshalb mussten wir fliehen.

Das Edikt von Nantes

Beinahe hundert Jahre waren Hugenotten, wie sich die Anhänger des Protestantismus in Frankreich nannten und zu der sich auch die Familie André/Heraud bekannte, Katholiken rechtlich und gesellschaftlich fast gleichgestellt. Nach jahrelangen Konflikten, die sowohl auf protestantischer wie katholischer Seite zahllose Opfer forderten, gewährte König Heinrich IV. seinen protestantischen Untertanen 1598 mit dem „Edikt von Nantes“ Bürgerrechte und Religionsfreiheit.

Von dieser Flucht möchte ich erzählen, von den Verlusten, die wir erlitten haben. Ich bin ein alter Mann und doch schmerzt es mich noch immer, wenn ich an das zurückdenke, was ich – wie so viele andere auch – verloren habe. Und ja, von dem Ankommen in unserer neuen Heimat, von dem Leben in Wohlstand, das uns trotz unseres Glaubens vergönnt sein sollte – auch davon möchte ich erzählen.

Im Herbst 1687 sind wir in Südfrankreich aufgebrochen. Mit meinen 14 Jahren habe ich nicht so recht verstanden, wieso wir unsere Flucht damals ausgerechnet in der kälteren Jahreszeit antraten. Der Vorteil war, dass die Tage kürzer waren und wir im Schutz der Dunkelheit den langen Fußmarsch zur Schweizer Grenze bewältigen konnten, so erklärte es uns Maman. Und sie schärfte uns Kindern immer wieder ein, dass wir uns unauffällig verhalten sollen. Bis heute frage ich mich, wie wir es geschafft haben, unentdeckt aus Frankreich rauszukommen … Henri, mein jüngster Bruder war noch ein Säugling und auch Valentin, der zweitjüngste, gerade mal fünf Jahre alt! Man darf nicht vergessen, dass die Fluchtrouten überwacht wurden; kein Hugenotte sollte Frankreich verlassen, wenn es nach dem König gegangen wäre! Doch Gott sei Dank haben wir es rausgeschafft! Nicht auszumalen, was passiert wäre, wenn unsere Flucht entdeckt worden wäre! Meinen Stiefvater hätte man auf die Galeere geschafft – ein elendes Vegetieren bis zum sicheren, baldigen Tod wäre das gewesen. Mutter hätte bis zu ihrem Tode ihr Dasein in Klosterhaft fristen müssen – ohne uns. Wir wären in staatliche Obhut gekommen, was wir sicherlich auch nicht lange überlebt hätten. Ja, Ludwig XIV. war ein Tyrann! Er ließ uns, seinen protestantischen Untertanen, keine Wahl.

Diejenigen, die uns Flüchtenden halfen, uns einen mehr oder weniger trockenen Schlafplatz in einer Scheune überließen oder das Bisschen an Lebensmitteln, das sie hatten, mit uns teilten, machten sich ebenso strafbar wie wir. Doch das Gebot der Nächstenliebe war stärker als die Angst vor sämtlichen angedrohten Strafen.

Ungefähr sechs Wochen dauerte es, bis wir die Grenze zur Schweiz erreicht haben, ganz genau erinnere ich mich nicht mehr. Woran ich mich aber nur allzu gut erinnern kann, sind der Hunger, die Kälte und die ständige Angst, gefasst zu werden, bis wir endlich dort angekommen waren. Fluchthelfer ließen sich ihre Hilfe an der Grenze zwar teuer bezahlen, doch die Erleichterung, endlich in Sicherheit zu sein, war unbeschreiblich! Im Winter 1687 kamen wir im calvinistischen und damit für uns Protestanten sicheren Genf an. Doch Hunderttausende Glaubensflüchtlinge hatten Frankreich den Rücken gekehrt und viele davon hatten Genf für einen Neuanfang ins Auge gefasst – lange, bevor wir uns auf den Weg gemacht haben. Die Stadt war überfüllt, es gab keinen Platz für all die Menschen, von Arbeit ganz zu schweigen. Hier erfuhren wir allerdings, dass sich die Reise weiter Richtung Norden lohnen würde. Im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation gab es einige Fürstentümer, deren Oberhäupter den lutherischen Glauben angenommen hatten und den französischen Glaubensgenossen Zuflucht und eine wirtschaftliche Perspektive boten. Erschöpft und mit der Gewissheit, dass wir eine neue Sprache erlernen und eine andere Kultur verstehen lernen mussten, brachen wir doch gleichzeitig voller Hoffnung Anfang 1688 erneut auf.

Zum Glück wussten wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht, wie entbehrungsreich diese zweite Etappe unserer Flucht sein würde; welch schweren Verluste wir würden hinnehmen müssen. Maman hatte sich weder seelisch noch körperlich von der beschwerlichen Flucht aus Frankreich erholt, als wir in Genf aufbrachen. Die Geburt Henris lag noch nicht lange zurück und der Kräfte zehrende Marsch, das wenige Essen und das Stillen des Jüngsten ließen ihre keine Kraft übrig. Sie starb Ende Januar in Pforzheim. Kurz darauf verloren wir auch Jean, meinen geliebten Bruder, der nur zwölf Jahre alt werden sollte und ja, auch Henri, um dessen Leben unsere Mutter so gekämpft hatte. Wir waren zu sechst in der Hoffnung auf ein besseres Leben in Frankreich aufgebrochen, doch nur drei von uns aus der Familie André/Heraud sollten die Flucht überleben und die Chance für einen Neuanfang bekommen.

Diese Chance nutzten wir, das waren wir Maman und meinen Brüdern schuldig! Jacques, mein Beaupére, ging in Frankfurt wieder seiner Tätigkeit als Strumpfwirker nach, ich selbst absolvierte meine Ausbildung als Seidenweber in Offenbach. Ich habe schöne Erinnerungen an diese Zeit und sicherlich war das mit ein Grund, dass die Andrés später hier ihr neues Zuhause finden sollten. Nach meiner Lehrzeit arbeitete ich, wie mein Bruder Valentin, für meinen Stiefvater. 1699 heirateten meine liebe Frau – Judith Gerain – und ich in Frankurt. Judie, wie ich sie nannte, war wie auch ich im Kindesalter mit ihrer Familie aus Frankreich geflohen. Sie wusste also, was es hieß, alles Geliebte und Vertraute hinter sich zu lassen. Umso dankbarer bin ich dafür, dass es uns möglich war, unseren Kindern Wohlstand, Sicherheit und Bildung zu ermöglichen. Durch die Entscheidung meiner Eltern, Frankreich zu verlassen, konnten ihre Enkel – Judies und meine Kinder – unseren Glauben leben, ohne Angst. Dafür werde ich ihnen dankbar sein, bis zu meinem letzten Atemzug. So lange werde ich auch die Erinnerung an meine geliebte Heimat im Herzen tragen.

Verfasst von Dr. Jennifer Jessen